Jüdisches Leben im Kraichgau vor 1933

I. Allgemeines
Der Kraichgau liegt im Nordwesten Baden-Württembergs zwischen Odenwald, nördlichem Schwarzwald, Neckartal und Oberrheinischer Tiefebene.

Abgesehen von einigen kleineren bis mittleren Städten wie Bretten, Sinsheim, Eppingen, Wiesloch oder Bruchsal war und ist der Raum landwirtschaftlich dominiert.
Der Kraichgau war politisch immer sehr zersplittert in
  • selbständige kleine Reichsritterschaften z. B. die Herren von Gemmingen oder Menzingen
  • badische Besitzungen (Baden – Durlach)
  • württembergische Exklaven
  • geistliche Besitzungen Bistum Speyer
Außerdem gehörten große Teile des Kraichgaus zur Kurpfalz oder wurden im Laufe der Geschichte – wie beispielsweise 1462 Eppingen und Bretten – kurpfälzisch.

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Jüdischer Friedhof in Flehingen


II. Jüdische Bevölkerungszahlen und Siedlungsschwerpunkte
Während des Mittelalters und der Neuzeit war der Kraichgau eines der größten jüdischen Siedlungsgebiete von Landjuden im Südwesten des damaligen „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“.
Im 13. Jahrhundert haben wir erste Zeugnisse eines Juden aus dem Kraichgau:
Ein Isaak von Bruchsal wird 1288 in Frankfurt erwähnt.
1318 werden ein Abraham de Sunnesheim (heute: Sinsheim) und sein Schwiegervater David als Geldverleiher erwähnt.
Für das Mittelalter lässt sich die Zahl der jüdischen Bevölkerung nur wage schätzen, etwa anhand von Memorbüchern (= traditionelles Totengedenkbuch im Judentum); oder sie lässt sich aufgrund von Herkunftsnamen ermitteln.
Insgesamt steigt die Zahl der jüdischen Bevölkerung bis 1348/49 im Kraichgau an. Zwei Faktoren sind dafür maßgeblich:
  • natürliche Vermehrung
  • Vertreibung aus dem nahegelegenen Frankreich 1306 durch König Philipp IV.
  • Judenverfolgung in Franken zwischen Main und Neckar 1298. So wurden zum Beispiel in Kleingartach alle 133 jüdischen Einwohner erschlagen.
Nach 1348/49 sind nur noch vereinzelt jüdische Einwohner überliefert. 30 Jahre später lässt eine Steuerliste des Pfalzgrafen Ruprecht I. aus dem Jahr 1380 erkennen, dass in Bretten eine Jüdin namens Hanne sesshaft war, in Eppingen zwei Juden namens Jecklin und Kossir, in Wiesloch zwei Juden namens Syzelin und Selmelin und in Sinsheim ein Jude (der Lehrmeister genannt wird) wohnten.
Erst für Neuzeit liegen genauere Zahlen vor:

Neckarbischofsheim:
1694
25 – 30 Juden ansässig

1746
80 – 100 Juden ansässig

1807
Jeder 15. Einwohner der Stadt ist Jude
Eppingen:
1736
54 jüdische Einwohner

1797
16 jüdische Familien mit einen Hausanteil von 9 ½
(Vergleich Heidelberg: 31 jüdische Familien mit 17 Häusern)
Bretten:
1797
28 jüdische Familien mit 20 Häusern
Heidelsheim:
1797
21 jüdische Familien mit 15 ½ Häusern

Um 1800 lebten zwischen 6000 und 7000 Juden in der Kurpfalz.
Im
19. Jahrhundert erreichte die Zahl der jüdischen Bevölkerung im Kraichgau ihren Höchststand. In den Städten Bruchsal, Bretten, Eppingen und Sinsheim erreichte ihr Anteil
5- 8 %. Um 1800 lebten in jeden zweiten Ort des Kraichgaus Juden. 1847 waren in Eppingen von 2500 Einwohnern 222 jüdisch, 1887 in Bruchsal 752 von 11900.
In den Dörfern erreichte die Zahl der jüdischen Bewohner bis zu 20 %, manchmal auch über 30 % der Gesamteinwohnerschaft:
  • Neidenstein: 20 %
  • Wollenberg (Bad Rappenau): 38 %
  • Mühlenhausen-Trainbach: 33 %

III. Zwischen Ansiedlung, Verfolgung und Vertreibung

1. Ansiedlungsgründe
Warum kam es zur Ansiedlung von Juden im Kraichgau?
Offenbar versprach man sich von der Ansiedlung von Juden einen wirtschaftlichen Aufschwung der neuen Städte; sie erfolgte keinesfalls aus humanen Gründen!
  • Juden galten als Fachleute für Handel und Geldverleih
  • Juden mussten Schutzgeld zahlen (wichtige Einnahmequelle)
  • Die Schutzherrschaft konnte zeitlich begrenzt werden
  • Man konnte sich bei Juden Geld leihen, wobei man ihnen die Geschäftsbedingungen gleichsam diktierte
  • Die Herrschaft als Schutzherr war sich der Loyalität der Juden sicher
  • Juden waren in der Regel gute und pünktliche Steuerzahler
  • Die Herrschaft hatte jederzeit die Möglichkeit, jüdischen Besitz zu enteignen
  • Juden dienten als Sündenböcke bei Krisen oder Misswirtschaft
Die Abgabenlasten der jüdischen Bevölkerung zeigen sich beispielsweise in der „Judenordnung“ des Kurfürsten Karl Ludwig vom 16. April 1662:
Jährliche Abgaben für 108 jüdische Haushalte auf dem Gebiet der Kurzpfalz (auf 4 Jahre festgeschrieben):

1. Schutzgeld:
200 Gulden
2. Für die Bewilligung neuer Häuser:
300 Gulden
3. Abgaben für Kinder:
200 Gulden
Insgesamt jährlich:
700 Gulden
Pro Haushalt:
6,5 Gulden
Von den Vorstehern Samuel Oppenheimer einzuziehen und in der Kanzlei in Heidelberg abzuliefern.

Vergleichsgrößen:
Professorengehalt (Jahresgehalt) an der Universität Heidelberg um 1600:
  • • 100 Gulden für Angehörige der Artistenfakultät + Wein, Holz u. a. Naturalien
  • • 250 Gulden für Professoren der „oberen Fakultäten“: Jura, Medizin, Theologie

Weitere Abgaben:
  • Geleitschutz-/Durchreiseabgabe
  • Pachtzahlungen für Friedhöfe/Friedhofsgebühren
  • Entrichtung einer Kopfsteuer, des sogenannten Judenzinses
  • Verschiedene Sonderabgaben: So mussten beispielsweise in Eppingen 1732/33 die jüdischen Einwohner 45 Kreuzer pro Klafter Holz bezahlen, während die nichtjüdische Bevölkerung das Holz „nach Notdurft“ kostenlos bezog

2. Höhepunkte der Verfolgungen: 1348/49
Die Verfolgungen im Zuge der Pestepidemie in den Jahren 1348/49 führte nicht nur im Kraichgau zur Auslöschung vieler jüdischer Gemeinden. In Bretten, Bruchsal, Waibstadt, Wiesloch, Eppingen und Sinsheim wurden die Juden auf grausame Weise erschlagen.
Während ungefähr ¼ der christlichen Bevölkerung der Pest zum Opfer fiel, mussten über ¾ der deutschen Juden in unzähligen Pogromen ihr Leben lassen.
Die Zahl der in der Kurpfalz und damit auch im Kraichgau lebenden Juden war nach den Schreckensjahren 1348/49 sehr niedrig, da sich höchstens zwei Familien in einem Ort niederlassen durften.
Im Jahre 1390 wurde alle Juden aus der Kurpfalz von Kurfürst Ruprecht II. (1390-98) bei seinem Regierungsantritt vertrieben.

Der nächste in Eppingen ansässige Jude wird erst wieder 1526 erwähnt. Dazu heißt es im Gemeindeprotokoll:
„Der Jude Byfuss aus Schleckingen erhält die Erlaubnis, mit den Seinen in Eppingen zu wohnen aller bürgerlicher beschwerd frey; für Schutz, Schirm und Wohnung soll er jährlich 28 Gulden zahlen und zwar dem Pfalzgrafen 24 Gulden und der Stadt Eppingen 4 Gulden; für seinen Aufenthalt um Eppingen erhält er freies Geleit.“

Bis zum Ende des 30jährigen Krieges kam es zu keinem Aufschwung jüdischen Lebens im Kraichgau

Erst die oben bereits erwähnte Judenordnung des Kurfürsten Karl Ludwig von 1662 brachte in dieser Hinsicht eine Wende:
Die Juden in der Kurpfalz bekommen das Recht,
  • „das sie entweder neue Häuser aufbauen oder auch ruinierte Häuser erkaufen und reparieren mögen.“
  • „wie ihnen gleichfalls, gegen vergleichende Bezahlung, ein gewisser Ort zum gemeinen Begräbnis in unserem Gebiet angewiesen und eingeräumt werden soll. Und dieweil sich auch unterthänigst fürgebracht, dass ihnen ihre Toten aus allen Ämtern in ein Ort zu bringen, weiter Entlegenheit halber allzu beschwerlich, als ist ihnen auch zugelassen, an denen Orten, wo sie sich häuslich aufhalten, ein Platz von uns oder unseren Unterthanen zu erkaufen und daselbst die Todten zu begraben.“

Motive für die Wiederansiedlung von Juden in der Kurpfalz:
  • Die weitreichenden Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg
  • Die jüdische Bevölkerung der Kurpfalz musste zum Wiederaufbau nach dem verheerenden Pfälzischen Erbfolgekrieg 1688–97 mit einer Sonderabgabe von 6000 Gulden zum Wiederaufbau der Pfalz beitragen:
    „Da es an Geldmittel hin und wieder gebrechen wolle, man bei der Hofkammer darauf gefallen sei, dass es nicht mehr als billig wäre, die Juden mit einem Beitrag von 6000 Gulden zu den außergewöhnlichen Lasten heranzuziehen.“ (Schreiben der Regierung vom 17. April 1700 an Kurfürst Johann Wilhelm)

3. Attestate und Kennzeichnung als Bedingung der Schutzherrschaft

a) Attestate
Die christlichen Herrschaften hatten ein großes Interesse, den Ruf, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihrer potentiellen Schutzjuden zu kennen. Vor allem an der Ansiedlung von reichen Juden war man interessiert. Deshalb verlangten die Herrschaften jeweils Attestate von Juden, die sich in ihrem Herrschaftsgebiet ansiedeln möchten.

Positive Attestate waren zwar eine nötige, aber keine ausreichende Voraussetzung für eine erfolgreiche Schutzaufnahme. So war deren Ablehnung oft von Misstrauen bestimmt; wenn es sich aber um wohlhabende Juden handelte, wurde offenbar von diesem Misstrauen abgesehen und sogar das gute Verhältnis der bereits ansässigen Juden mit den Bürgern unterstrichen.
Die wichtigsten Aspekte in den Attestaten waren:
  • Reichtum
  • Abstammung aus einer ehrenhaften Familie
  • Erfolg und Wohlverhalten
  • Dauer der Ansässigkeit am Ort

Die Attestate spielten nicht nur eine wichtige Rolle bei der Frage, ob die Schutzherrschaft erteilt wird oder nicht, sondern sie manifestierten auch die öffentliche Anerkennung ehrbaren Verhaltens.

b) Kennzeichnungspflicht:
Bereits das IV. Laterankonzil 1215 verlangte eine Kennzeichnung der Juden. Sie sollten entweder einen sog. Judenhut tragen oder einen gelben Fleck auf ihrer Kleidung.

Der Bischof von Speyer, der große Güter im Kraichgau besaß, verlangte 1468, dass
„jeder Jude, der älter als 5 Jahre ist, einen gelben Ring offen auf der Brust“ zu tragen hatte.

1618 ordnete Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz an:
„Es soll auch genannte Juden in unseren Städten und Flecken ihre Zeichen oder gelbe Ringlein am Rock, damit sie erkannt werden können, tragen.“

4. Die Wohnsituation der jüdischen Bevölkerung
Auf dem Lande und in den Landstädten gab es unterschiedliche Wohnformen der jüdischen Bevölkerung:
  • Reservierung einer Gasse (=Judengasse)
  • Einquartierung in einem größeren Gebäude
  • In Rappenau lebten die jüdischen Familien bis Anfang bis Anfang des 19. Jahrhunderts in einem Gebäudekomplex, dem sogenannten „Judenhof“
  • In der Mehrheit der Dörfer lebte die jüdische Bevölkerung über den Ort verstreut
Im Gegensatz zu den Großstädten gab es in den Dörfern und Landstädten des Kraichgaus keine Ghettos.

5. Die Organisation der Landjudenschaft
Seit Ende des 30jährigen Krieges siedelten sich wieder vermehrt Juden im Kraichgau an.
Zur Bündelung und Durchsetzung ihrer Interessen entstanden in der frühen Neuzeit sogenannte Landjudenschaften.
Aufgaben:
  • Kontakt mit den Territorialherren
  • Vermittler zu den einzelnen jüdischen Gemeinden oder Siedlungen
  • Bestimmung des zuständigen Landesrabbiners
  • Sorge für die ordnungsgemäße und pünktliche Eintreibung der Steuer
Beispielsweise fungierte der „Jude Herz“, wie es in den Quellen heißt, als Vorsteher in Eppingen.


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IV. Der Kampf um Emanzipation und Partizipation im 19. und 20. Jahrhundert

1. Auf dem Weg zur Gleichstellung: Die Konstitutionsedikte (=Sammlung von Urkunden, die die Verfassung des Großherzogtums bildeten)
Die Gründung des Großherzogtums Baden 1803 war für die Juden auf landespolitischer Ebene ein großer Fortschritt. Von den Gesetzen zur Integration der unterschiedlichen Herrschaftsgebiete in das neue Großherzogtum profitierte auch die jüdische Bevölkerung.

1807:
  • Jüdische Konfession wird geduldet; Juden konnten Landbesitz erwerben, blieben aber von der Legislative ausgeschlossen; Juden blieben Schutzbürger
1809:
  • Verpflichtung zur Annahme von erblichen Familiennamen. (Vielen nannten sich nach den Orten, woher sie stammten, z.B. Regensburger, Frankfurter, Mannheimer, Eppinger, Heinsheimer, Münzesheimer etc.)
  • Schulpflicht für alle jüdischen Jungen
  • Rechtsgleichheit der jüdischen mit der christlichen Bevölkerung: Staatsbürgerliche Gleichberechtigung, aber keine Gemeindebürgerliche Gleichstellung
1820-1850:
  • In allen größeren jüdischen Gemeinden wurden eigene Volksschulen errichtet
1862:
  • Vollständige bürgerliche Gleichstellung der Juden Badens in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen (fast 10 Jahre früher als in den meisten deutschen Ländern)
  • Gewerbefreiheit: Angleichung im Berufsspektrum von Juden und Nichtjuden

Trotz Fortschritten auf landespolitischer Ebene blieben Rückschläge für die jüdische Bevölkerung bis zur Emanzipation 1862 nicht aus. Beispiel: Hetzschrift von J. F. Fries, Professor an der Universität Heidelberg, 1817: „Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden“.

Im Zuge der März Revolution 1848 kam es auch im Kraichgau zu Pogromen gegen die jüdische Einwohnerschaft. Beispiele:
  • In Rappenau wurde dem einzigen jüdischen Bewohner unter Androhung von Gewalt das verliehene Ortsbürgerrecht genommen
  • 1848 gab es in Bruchsal-Deidelsheim regelrechten „Judensturm“, Demolierungen, Plünderungen, Misshandlungen
  • 4. März 1848: Sogenannter „Judenkravall in Neckarbischofsheim“ , Misshandlung jüdischer Männer und Frauen, Demolierungen von Wohnungen und Plünderungen.
  • Im November 1849 in Walldorf: antijüdische Ausschreitungen, wo unter HEP-HEP-Rufen jüdische Wohnhäuser demoliert wurden

Hintergrund der Pogrome:
Die Verschuldung von Kleinbauern, Missernten sowie Gleichberechtigung der jüdischen Einwohner sind hier als ursächliche Motive zu nennen. So hätte die von Abgeordneten des Badischen Landtages geforderte Übertragung der Gemeindebürgerrechte den Kommunen weitere Lasten aufgebürdet, zum Beispiel die Versorgung mittelloser Juden.

2. Der Kampf um jüdische Einrichtungen
Neben der Mikwe, dem Ritualbad, sind besonders zwei Einrichtungen für ein jüdisches Leben vor Ort wichtig: eine Synagoge und ein Friedhof.

Wenn Landjuden ihre Religionsgesetze erfüllen wollten, war das oft mit Kosten verbunden, nämlich mit Geleitkosten oder Durchgangszöllen, etwa um die Synagogen aufzusuchen, die meistens nicht vor Ort war, oder um ihre Toten auf einem entfernt liegenden Friedhof zu besuchen oder zu bestatten.

a) Errichtung von Synagogen
Eigenständige Synagogen hatte nur die Gemeinde in Bischofsheim mit dem Gebäude in der Rathausgasse, das für 1746 belegt ist. Ein Neubau erfolgte 1848.

In den meisten Orten des Kraichgaus wurde der Bau eigenständiger Synagogen erst im letzten Drittel des 18. oder in der ersten Hälfte des 19. Jh. möglich.


In Eppingen:
1772 (In Südwestdeutschland eine Sensation:
Synagoge aus dieser Zeit mit Mikwe)
In Berwangen:
1770/71
In Bonfeld:
1780
In Heinsheim:
1796

Der Wunsch der jüdischen Bevölkerung nach einem eigenständigen Synagogenbau markierte in manchen Orten die Grenze der Duldsamkeit der christlichen Dorfbevölkerung.
So verhinderte die Ittlinger Gemeinde 1799 erfolgreich den Bau einer Synagoge, nachdem die jüdische Gemeinde ein Grundstück erworben und die herrschaftliche Genehmigung zur Errichtung einer Synagoge erhalten hatte.
Die Synagoge wurde aber 1805 errichtet und löste den zu klein gewordenen Betsaal ab.

Seit der Emanzipation der Gleichstellung der Juden mit den übrigen Bürgern 1862
Kommt es zu einer Fülle von Synagogenneubauten, teilweise – wie in Eppingen – in unmittelbarer Nähe zu christlichen Kirchen.

b) Die Anlage von Friedhöfen
  • Der älteste jüdische Friedhof im Kraichgau wurde 1629 in Oberöwisheim errichtet
  • Größter jüdischer Friedhof: Waibstadt (Verbandsfriedhof für etwa 30 jüdische Gemeinden im nördlichen Kraichgau: „Begräbnisverein Waibstadt“)
  • Jüdischer Friedhof von Eppingen: 1818/19 errichtet, Größe 4121 m², bis heute 733 Gräber
Ersuchen um die notwendige Erweiterung der Friedhöfe wurden allerdings von den Gemeinderäten meist verwehrt.

3. Die Behauptung im Wirtschaftsprozess
Mit der Gleichstellung der Juden in Baden am 4. Oktober 1862 nahm die Zahl der jüdischen Bevölkerung auf dem Lande ab. Die garantierte Freizügigkeit führte zu einer Abwanderung in die Städte, außerdem wurde die Möglichkeit zur Auswanderung wegen der Judenpogrome und aus wirtschaftlichen Gründen in Anspruch genommen.
Unter anderem erfolgte die Verlagerung der Bettfedernfabrik des Michael Kahns von Stebbach nach Mannheim.

In Eppingen gab es zwei jüdische Geschäftsleute, die Ausreisen nach Nordamerika organisierten: Die Agentur Fleischer und Ulmann sowie die Agentur Julius Heinsheimer.
Aus Eppingen wanderten folgende 4 Familien nach Amerika aus:
Isaak Eppinger, Lehmann Eppinger sowie die Schwestern von Hermann Eppinger, Babett und Karoline Eppinger

4. Die gesellschaftliche Integration
a) Vereinswesen
Im 19. Jahrhundert gab es einen Gründungsboom, was das Vereinswesen betrifft. Man schloss sich zusammen, um neue Aufgaben der Zeit meistern (z. B. Brandschutz), um gemeinsamen Interessen nachzugehen oder einfach der Geselligkeit zu frönen.
Dass die jüdischen Einwohner im Kraichgau rege am Vereinsleben mitwirkten, sogar als Gründungsmitglieder auftraten, unterstreicht nicht nur ihren Grad gesellschaftlicher Integration, sondern auch ihr Ansehen innerhalb der jeweiligen Gemeinden.

In den meisten Orten mit einer größeren jüdischen Bevölkerung wurden eigene jüdische Vereine gegründet, unter anderem Begräbnisvereine, oder 1872 in Bruchsal – zu Fürsorgezwecken – der Israelitische Frauenverein; in Sinsheim gab es einen Talmud-Thora-Verein, in Bretten einen Literaturverein für jüdische Geschichte und 1866 in Gemmingen einen israelitischen Gesangverein.

Um die Jahrhundertwende waren jüdische Bürger in Bruchsal aktiv in der dortigen Karnevalsgesellschaft.

1847 waren unter den 27 Gründungsmitglieder der Freiwilligen Feuerwehr Eppingens 3 Juden: Lehmann Weinheimer, Isaak Regensburger und Moritz Regensburger. In der Festschrift 1937 zum 90jährigen Jubiläum wurden diese Namen aus ideologischen Gründen unterschlagen.

Bei der am 15. Mai 1865 erfolgten Gründung des Turnvereins Eppingen waren 5 der 23 im Mitgliederverzeichnis aufgeführten Personen jüdischen Glaubens: Leopold Fleischer, David Levy, Jakob Fürth, Louis Regensburger und Leopold Heinsheimer.

Im Jahre 1921 wurde der Fußballverein VFB Eppingen gegründet. Der Lehramtspraktikant Samuel Schlesinger hatte neben seiner Spielertätigkeit auch das Amt des 2. Vorsitzenden inne.

Der Verkehrsverein Eppingen entstand 1924 auf Initiative des Sattlermeisters Karl Stroh und des jüdischen Kaufmanns Nathan Marx. Karl Stroh wurde zum ersten Vorsitzenden und Nathan Marx zum 2. Vorsitzenden gewählt.

In Bruchsal waren jüdische Bürger seit den 1860er Jahren im Stadtrat und im Kreisrat vertreten.

b) Kriegsteilnehmer
Schließlich zeigte sich das Selbstverständnis der jüdischen Bürger an der Selbstverständlichkeit ihrer Teilnahme am ersten Weltkrieg. Sie verstanden sich in erster Linie nicht als außerhalb des deutschen Volkes stehend, sondern als Teil dieses Volkes, als Deutsche jüdischen Glaubens.

Ungefähr 100 000 jüdische Soldaten kämpften im ersten Weltkrieg für das Deutsche Reich.

In Menzingen nahm die jüdische Bevölkerung während des Krieges wie selbstverständlich an den täglichen Kriegsandachten in der evangelischen Kirche teil.


Bruchsaler jüdische Gemeinde:
16 Gefallene
Bretten:
10 Gefallene
Eppingen:
7 Gefallene
Gemmingen:
5 Gefallene



Literaturnachweis:

Leopold Löwenstein, Beiträge zur Geschichte der Juden in Deutschland, Bd. I. Geschichte der Juden in der Kurpfalz, Frankfurt 1895

Salfeld, Siegmund, Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland. III. Band, Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches, Berlin 1898.

Hahn, Joachim, Geschichte der Juden im Kraichgau. In: Kraichgau. Beiträge zur Landschafts- und Heimatforschung, Folge 9, hgg. v. Heimatverein Kraichgau.

Uri R. Kaufmann, Über die jüdische Geschichte in der Kurpfalz. In: Schweikert Alexander (Hg.): Kurpfalz, Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs. Bd. 25, Stuttgart 1997.

Die Judenordnung des Kurfürsten Karl Ludwig vom 16. April 1662. In. Mannheimer Geschichtsblätter. Monatsschrift für die Geschichte, Altertums- und Volkskunde Mannheims und der Pfalz, hg. v. Mannheimer Altertumsverein Nr. 18 (1917), Nr. 1/2.

Hans Benz und Hansjörg Bräumer, Die Juden in Neckarbischofsheim. In: Kraichgau. Beiträge zur Landschafts- und Heimatforschung, Folge 7, 1981.

Michael Heitz, Jüdisches Leben im Kraichgau am Beispiel der ehemals kurpfälzischen Stadt Eppingen im 19. und 20. Jahrhundert (Diplomarbeit Päd. Hochschule Heidelberg, 2001.

Ben-Sasson, Haim Hillel (Hg.), Geschichte des jüdischen Volkes – Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1995 (3. Auflagen), S. 597.

Preuß, Monika, … aber die Krone des guten Namens überragt sie. Jüdische Ehrvorstellungen im 18. Jahrhundert im Kraichgau, Stuttgart 2005.

Wolfgang Ehret, Die jüdische Familie Kahn aus Stebbach. Fabrikanten, Revolutionäre, Bankiers. In: Kraichgau 17 (2002).

Wolfgang Angerbauer, Georg Frank. Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn, 1986.

Artur Hochwarth, Die Kultstätten der jüdischen Gemeinde in Wiesloch. In: Kraichgau. Beiträge zur Landschafts- und Heimatforschung, Folge 9, 1985.