Hanna Hamburger, geb. Marx
(im Foto unten links)
Nashville, TN (U.S.A.) 3. Februar 2001
Lieber Herr
Heitz,
wie Sie sich vorstellen können, habe ich in der Zwischenzeit vieles aus meiner Kindheit
vergessen. Es ist nun schon mehr als 62 Jahre her, seit wir Eppingen verlassen mußten.
Ich verbrachte während meiner ersten zehn Lebensjahre eine ganze normale Kindheit in
Eppingen. Ich wurde zu Feiern und Parties eingeladen, hatte Schulfreundinnen und
Schulfreunde und besuchte diese zu Hause.
Ab 1933 wußten wir, was vor sich ging, denn wir hatten ein Radio.
Der erste Vorfall ereignete sich im April 1933, als ich zum Mittagessen nach Hause kam.
(Ich war damals in der Sexta des Gymnasiums in Eppingen (= entspricht der 5. Klasse). Ich
sah, dass das Geschäft meines Vaters geschlossen war und ich dachte zunächst, meiner
Großmutter wäre irgend etwas zugestoßen. Unser Arzt Dr. Bauer lief vor mir her und ich
rannte hinter ihm. Als ich ihn fragte, was los sei, konnte er mir auch keinen Grund
nennen, warum das Geschäft geschlossen war. War es vielleicht ein jüdischer Feiertag?
Dann merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Zwei Mitglieder der SS liefen vor dem Geschäft
hin und her und verjagten die Leute. Mein Vater war im Begriff seine Uniform anzuziehen.
Während des Ersten Weltkrieges hatte er den Rang eines Feldwebels inne. Aber statt dessen
nahm er seine Kriegsauszeichnungen und zeigte sie den SS-Männern. Er war Träger des
Eisernen Kreuzes ersten Ranges. Als sie dies sahen, entschuldigten sie sich und baten ihn,
das Geschäft für einen Tag geschlossen zu lassen.
Das Leben ging weiter und mein Vater war der festen Meinung, dass das Dritte Reich eine
vorübergehende Erscheinung in Deutschland sei. Und vor allem, kämpfte er ja zuvor für
Deutschland, sein Vaterland.
Unsere Familie mütterlicherseits lebte seit Jahrhunderten in Eppingen, mein Vater seit
vielen Jahren (er war zuvor aus der Nähe von Schwäbisch Hall nach Eppingen zugezogen).
Ich hatte nie die Möglichkeit im Turnverein Eppingen Mitglied zu werden, mein Vater ging
aber regelmäßig zu einem Kegelclub und war aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr
Eppingen.
Nach der Machtergreifung Hitlers wurde ich nie mehr zu Festen oder Parties eingeladen.
Bis in die Jahre 1935/36 war es uns erlaubt in das Eppinger Schwimmbad zu gehen. Als wir
eines Tages dort wieder baden gehen wollten, stand dort ein Schild: "Für Juden
verboten".
Ich glaube es war um die Zeit, als ***** in Eppingen Bürgermeister war und sich die Dinge
langsam veränderten. Es kamen Menschen in das Geschäft meines Vaters und sagten ihm,
dass sie fortan nicht mehr bei ihm einkaufen durften. Manche machten dies trotzdem und
kamen über den Hintereingang in das Geschäft. Es gab sogar welche, die sich überhaupt
nicht um das Verbot kümmerten.
Mein Klassenlehrer an der Eppinger Realschule (heute Gymnasium) sagte mir, ich hätte den
Klassenpreis gewonnen, wenn Hitler nicht an der Macht wäre. Aber als Jüdin ist dies nun
unmöglich.
Im Jahre 1936 mußte ich nach Sinsheim auf die weiterführende Schule gehen. Damals fing
alles an schlimmer zu werden.
Meine ehemaligen Schulkameraden aus Eppingen saßen nicht mehr in dem gleichen Zugabteil,
in dem ich saß. Außer Gerhard Diefenbacher sprach überhaupt keiner mehr mit mir.
Gerhard hatte nie Angst, sich neben mich zu setzen und mit mir zu sprechen. Dieses Jahr
war für mich wie die Hölle, denn einige Lehrer in Sinsheim waren gute Nazis und machten
mir das Leben sehr, sehr schwer. Ich war die einzige jüdische Schülerin in der ganzen
Schule und betete jeden Tag, die Schule möge doch endlich abbrennen.
Einen Lehrer werde ich niemals vergessen. Er unterrichtete Englisch und Erdkunde. Er war
ein echter Nazi und wurde immer böse, wenn ich gute Arbeiten schrieb. Er zeigte auf mich
und sagte: "Die Arbeit war wohl zu leicht, wenn gewisse Leute so gute Noten
erzielen". Ich hatte immer den Wunsch ihm ins Gesicht zu spucken. Selbst wenn ich
mich heute an ihn erinnere, wird mir schlecht. Er hat mir bei der Entwicklung meines
Selbstbewußtseins großen Schaden zugefügt.
Ich verbrachte ein Jahr dort an der Sinsheimer Schule. Mein Vater hatte dann zwei
Möglichkeiten: Entweder würde er mich freiwillig von der Schule nehmen oder ich würde
rausgeschmissen werden. Ich musste daraufhin die Fortbildungsschule besuchen und die
Nonnen nahmen mich in die Nähschule.
Sinsheim war ein verlorenes Jahr für mich und es tut mir immer noch weh, wenn ich mich
daran erinnere.
In der Zwischenzeit nahmen sie den Feuerwehrhelm meines Vaters. Daraufhin wurde ihm
bewusst, dass für ihn in Eppingen und Deutschland kein Platz mehr war. Im Jahre 1938 ging
ich zunächst noch auf eine jüdische Mädchenschule in Bayern und kam nochmals für ein
paar Wochen nach Eppingen, bevor wir dann Deutschland für immer verließen.
Meine Eltern versuchten mich vor all dem Negativen abzuschirmen. Ich erinnere mich aber an
einen Tag, als ich die Gestapo im Geschäft meines Vaters die Geschäftsbücher
überprüfen sah. Als die Buchhalterin meinem Vater zur Hilfe kommen wollte, wurde sie von
der Gestapo aus dem Geschäft verwiesen.
Jemand kam dann zu meinem Vater mit der wichtigen Nachricht, das Land so bald wie möglich
zu verlassen. Wir verließen Deutschland am 30. Oktober 1938 (12 Tage vor der
Reichspogromnacht = 9./10.11.1938) und kamen am 5.November in den U.S.A. an.
Es gab da noch mehr Ereignisse, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Ich glaube,
dass die meisten Leute in Eppingen anständig waren. Die meisten ließen uns auch in Ruhe.
Es gab aber auch einige scheußliche Anrufe.
An dem Tag, als mein Vater das Geschäft schloss, kamen einige Leute vorbei, um uns
Lebewohl zu sagen. Sie sagten, die SS vor dem Laden sei verschwunden.
Nachdem die Gestapo die Geschäftsbücher überprüft hatte, behaupteten sie, mein Vater
hätte nicht genug Steuern gezahlt. Er musste daraufhin eine Strafe zahlen, die höher war
als der Erlös des Geschäftsverkaufs. Mein Vater musste daraufhin Geld bei Verwandten
für die Überfahrt in die U.S.A. leihen. Ein Cousin meiner Mutter, der zu dieser Zeit mit
seiner Tochter in Holland lebte, lieh uns das Geld. Er wurde in den Vernichtungslagern der
Nazis ermordet.
Ich war nach dem Krieg noch dreimal in Eppingen. Dies war ein Kapitel, das zu Ende
gebracht werden musste. Dabei traf ich auf viele bekannte Gesichter. Vielen Leute war dies
peinlich, viele schauten aufgrund ihres schuldhaften Verhaltens verlegen zur Seite, andere
aber freuten sich auch auf ein Wiedersehen mit mir.
Beim Anblick des gut gepflegten jüdischen Friedhofes spürte ich so etwas wie einen
Frieden in meinem Herzen. Nicht in allen Orten ist der jüdische Friedhof in einem so
guten Zustand. Ich war niemals mehr in meinem Elternhaus. Der neue Besitzer ließ mich
nicht hinein, obwohl meine Freundin Frau Kolb mir dabei behilflich war. Wie Sie vielleicht
wissen, ist sie eine gute Freundin zu mir. Das gleiche gilt auch für Frau Erna Blösch.
Ich bat die Stadt Eppingen, ihre ehemaligen jüdischen Bewohner einzuladen und für die
Kosten aufzukommen. Genauso wie es viele andere Städte und Gemeinden in Deutschland
bisher auch gemacht haben und immer noch tun.
Einmal haben sie mir geantwortet: "die Stadt Eppingen hätte dafür kein Geld".
Das andere Mal hatten sie es überhaupt nicht mehr nötig, mir eine Antwort zu geben.
Nun, ich kann auch ohne Eppingen leben. Das schaffe ich jetzt schon seit mehr als 62
Jahren.
Für meine Eltern und Großmutter war der Abschied aus Eppingen viel schlimmer als für
mich. Sie wollten mich aber damit nicht unnötig belasten und sprachen niemals über ihre
Gefühle.
Mit der Abreise aus Eppingen schloss ich eine Tür hinter mir und viele Dinge möchte ich
nicht und kann ich nicht erinnern.
Ich weiß, dass wir in einer überaus glücklichen Lage waren, mein Vater niemals
verhaftet wurde und wir Deutschland rechtzeitig verlassen konnten.
Während der Überfahrt in die U.S.A. wurde mein Vater krank und später sagten mir die
Ärzte, dass dies sein erster Herzinfarkt gewesen ist. Im Jahr 1947 hatte er seinen
zweiten Infarkt und konnte nicht mehr arbeiten. Er starb bereits im Jahre 1949.
Meine Mutter erlitt 1955 einen Schlaganfall und erholte sich nicht mehr davon. Sie starb
1961.
Vielleicht hat uns Hitler in einer Weise doch einen Dienst erwiesen. Ich hätte wohl nie
meinen Ehemann getroffen. Ich habe heute zwei Söhne. Einer ist Psychologe, der andere ist
Arzt. Beide sind verheiratet und ich habe vier Enkelkinder.
Ich bin glücklich in meiner neuen Heimat Tennessee und genieße meinen Lebensabend im
Kreise meiner Familie.
Ihre
Hanna Hamburger
Auf die Frage, was sie gerne Eppinger Schülern persönlich mitteilen wolle, antwortete
Hannah Hamburger folgendes:
"Dass sie ihrem Herzen folgen und sich nicht einschüchtern lassen, noch zu
irgend etwas zwingen lassen, von dem sie wissen, dass sie es nicht wollen bzw., dass es
falsch ist.
Die deutschen Juden waren stolz auf ihr deutsches Erbe und lebten in Eppingen seit
mehreren Jahrhunderten. Mein Vater wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet und trug es
offen mit Stolz. Wie konnte überhaupt jemand dazu kommen, seine Liebe (Loyalität) zu
seinem Land anzuzweifeln? Er fühlte sich immer als guter Deutscher."
1.) Welche Enttäuschungen und Verletzungen schildert Frau Hamburger in diesem Brief?
2.) Wie erlebte sie die Rückkehr nach Eppingen?
3.) Was denskt du / denken Sie persönlich über ihre Schlussworte und was würdest du /
würden Sie Frau Hamburger in einem Brief oder e-mail mitteilen?
Rhein-Neckar-Zeitung vom 21. Juli 2007
Kraichgau Stimme vom 21. Juli 2007